Im vollbesetzten ehemaligen „Heizkraftwerk“ der RWTH Aachen sprach der Bonner Philosoph und Theologe Hartmut Kreß über die Menschenwürde und das Grundrecht auf Selbstbestimmung.
Kreß begann seine Ausführungen mit dem Hinweis auf den Anfang des deutschen Grundgesetzes. Artikel 1 bzw. Artikel 2 Absatz 1 sprächen genau die beiden Begriffe an, die Immanuel Kant (1724–1804) im Bezug auf die Würde des Menschen geprägt hatte und aus denen er den menschlichen Sonderstatus ableitete: Freiheit und Selbstbestimmung. Ganz bewusst sei diese Definition der Menschenwürde nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 an die Spitze des Grundgesetzes gestellt worden. Ein rechtsgeschichtliches Novum, geschützt durch die Ewigkeitsgarantie. Zwar findet sich das Adjektiv „menschenwürdig“ bereits in Artikel 151 der Weimarer Verfassung, der aus dem Jahr 1919 stammt und den Sozialstaat umschreibt, doch vom heutigen Verständnis des Begriffs könne hierbei noch nicht ausgegangen werden, so Kreß.
Schrittweises Verständnis einer Menschenwürde
Auch noch ältere Zeugnisse eines frühen Verständnisses der menschlichen Würde, wie die dignitas in der antiken Stoa oder die Gottesebenbildlichkeit im Christentum, können laut Professor Kreß nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die heutige Auffassung des Begriffs erst in jüngster Vergangenheit entwickelt hat. „Der Begriff der Menschenwürde ist eine Errungenschaft der Neuzeit“, sagt Kreß.
Dem Islam, der zeitweise in dieser Frage toleranter gewesen sei als das Christentum, attestiert der Bonner Philosoph Nachholbedarf bei der Fähigkeit, sich auf eine weitreichende Akzeptanz einer universalen Menschenwürde einzulassen. Zugleich fügte er an, dass sich auch die christlichen Kirchen mit dieser Akzeptanz sehr schwer getan haben und ein langer Weg beschritten werden musste. Die katholische Kirche habe sich der Gottesebenbildlichkeit in wesentlichen Aspekten erst 1965 nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geöffnet, einige wunden Punkte seien sogar noch offen. Und auch die evangelische Kirche kritisierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 zu Beginn stark und sah in ihr vielmehr die Gefahr, den Menschen zu überhöhen.
Selbstbestimmung als fundamentales Grundrecht
Auch wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik die Selbstbestimmung als ein fundamentales Grundrecht ansieht, gilt sie nicht schrankenlos, wie Kreß ausführt. Vielmehr sind dem Recht, zu denken und zu handeln, wie es der eigenen Überzeugung entspricht, drei Grenzen gesetzt: Durch das Sittengesetz, durch die Verfassungsordnung und letztlich durch den Grundsatz, dass die Selbstbestimmung des Einen dort endet, wo die des Anderen beginnt. Innerhalb dieses Schrankentrias gelten Autonomie und Freiheit prinzipiell, also für jeden Menschen. Ganz nach Kant kommt es dabei nicht darauf an, ob der einzelne Mensch fähig ist, vernünftig und frei zu handeln, sondern ob die Gattung Mensch an sich dazu im Stande ist. Die Definition umfasst auch Säuglinge und Demente. „Der Mensch hat Würde, weil er Mensch ist“, fasst Harmut Kreß die Situation in einer Tautologie zusammen.
Um auf das Spannungsfeld einzugehen, dass sich hierbei auftut, nutzte der profilierte Medizinethiker Beispiele aus dem Gesundheitswesen. Hier wird der Verständniswandel schon am Begriff „Patientenautonomie“ deutlich. Der Gedanke sei nicht alt, so Hartmut Kreß, sondern erst in den 90er-Jahren entstanden. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten sei ein Umdenkprozess gewesen, der mit Jahrtausende alten Grundsätzen gebrochen habe. Vorher habe ein „Arzt-Paternalismus“ geherrscht, bei dem das Wohl des Kranken für den Arzt das höchste Gesetz gewesen sei und nicht der Wille des Patienten selber. Dabei zähle nach modernen Auffassung nur die individuelle Sicht für die eigene Würde.
Selbstbestimmung auch über den eigenen Tod
Genau das seien auch die beiden Positionen, die sich bei kontroversen Fragen wie der Sterbehilfe gegenüberstünden. Die Probleme des Lebensendes haben sich in den letzten 50 Jahren dramatisch verändert. Medizintechnologische Errungenschaften können Krankheiten verzögern oder aufhalten, die früher unbehandelt bleiben mussten. Noch vor 100 Jahren starb man einen raschen, plötzlichen und häufig unerwarteten Tod. Heute sei das Phänomen eher umgekehrt, so Hartmut Kreß: Menschen an ihrem Lebensende wünschten sich wieder einen raschen Tod. Die moderne Medizin sei auf beständiges Weiterleben ausgerichtet, die Intensivmedizin sorge zunehmend für ein Langziehen des Sterbeprozesses auch bei nicht vorhandener Heilungsaussicht. Im Wunsch nach passiver Sterbehilfe in Patientenverfügungen, also die Nichtinanspruchnahme lebenserhaltender Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen, sieht Kreß diese neu aufgekommene Selbstbestimmung verwirklicht.
Der Theologe fordert gleichzeitig vom Bundestag Nachbesserung in Bezug auf die Gesetzgebung vom November 2015. Die Regelung, die die geschäftsmäßige Förderung von Suizid verbiete, sei „unklar, weit gefasst und unbestimmt“ und erschwere damit, das Selbstbestimmungsrecht im Inland wahrzunehmen. Konkret geht es Kreß dabei um die aktive Sterbehilfe, bei der ein Arzt einem Sterbewilligen ein tödliches Medikament verabreichen würde. Nach der Reform von § 217 StGB vom November vergangenen Jahres laufe der Arzt nun Gefahr, sich strafbar zu machen. De facto führe die Regelung daher auch zu einem vollständigen Verbot von Sterbehilfevereinen in Deutschland, worin Kreß einen Rückschritt in Sachen Patientenautonomie sieht.
Organisiert hatten die Veranstaltung die beiden Aachener Unitas-Vereine Assindia und Reichenstein. Ihnen war es gelungen, zu einer Wissenschaftlichen Sitzung im Uni-Hörsaal weit über 120 Zuhörer zu gewinnen. Die Bedienung vielfältigster Werbekanäle, vom klassischen Plakat und Zeitungsannoncen bis hin zur Werbekampagne auf Facebook, machten die Veranstaltung – aus organisatorischer Sicht – zu einem vollen Erfolg. Die Zuhörer aus allen Generationen kamen durch den Vortrag von Professor Dr. Kreß, an den sich eine kurze und interessante Diskussion anschloss, auf ihre Kosten.
Zur Person

Dr. Hartmut Kreß, geb. 1954, ist seit 2000 Professor für Systematische Theologie, insbesondere Ethik, an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Bereits seit 1993 lehrte er Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik als Professor an der Universität Kiel, wo er das interdisziplinäre Zentrum für Ethik gründete. Zu seinen Fachgebieten zählen Grundlagen der Ethik, Medizin- und Bioethik, sowie Rechts- und Sozialethik. Kreß ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu rechtsethischen und medizinethischen Fragen; 2009 erschien die Neuauflage seines Buches „Medizinische Ethik“.