Wie sind die Wertevorstellungen der etablierten Parteien in Deutschland gewachsen? Und haben sie sich in den Jahren seit ihrer Gründung bewährt? Das waren die Leitfragen der Wissenschaftlichen Sitzung zum Thema „Werte und Ideale in der Politik“ von Bbr. Stefan Leisten. Das Semesterthema „Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“ wurde ergänzt um das Spannungsfeld zwischen Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus. Dass dabei auch die hochaktuelle Frage nach Werten in der Flüchtlingskrise diskutiert wurde, verlieh dem Vortrag eine besondere Tiefe.
Werte notwendig für politisches Handeln
Nach dem Politikwissenschaftler Dr. Christian Krell ist die Politik in einer Demokratie untrennbar mit einer Werteorientierung verknüpft. Und dies sei auch nicht anders denkbar, wäre doch ein zielgerichtetes politisches Handeln ohne normative Richtungsvorgabe nicht möglich. Wenn Werte nicht die Grundlage der Politik seien, dann verliere diese ihre Substanz. Dabei würden zwar Werte nicht immer explizit genannt. Dennoch seien sie impliziter Teil einer Parteiprogrammatik, die letzten Endes historisch gewachsen sei. Wenn dann nicht mehr Werte den Kern der Politik bildeten, sondern wenn die Politik durch Sachzwänge diktiert werde, wie es das Unwort des Jahres 2010 „Alternativlosigkeit“ suggeriert, dann verliere sich das Interesse und die Wahlbeteiligung falle, so die These von Stefan Leisten. Dieser Aussage zugrunde liegt die tatsächlich stetig fallende Wahlbeteiligung, die seit 1972 um 20% zurückgegangen ist. Die Zahl der Austritte von Parteimitgliedern steigt, die Parteibeitritte gehen zurück. „Natürlich ist es aber vorschnell von da aus auf eine vermeintliche Wertearmut der deutschen Politik zu schließen“, so der Referent.
Dabei ist die Debatte um Werte schwierig. Werte sind „schwer festlegbar und oft umstritten“, wie der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas schreibt. Ursprünglich vor allem in der Ökonomie verwendet fand der Begriff erst zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit Kants Metaphysik der Sitten Einzug in die Ethik. Dort wird der Wert an sich mit der Würde des Menschen verknüpft. Der Philosoph Herman Lotze tritt dann Ende des 19. Jahrhunderts für die Pluralisierung des Wertebegriffs ein.
Einzug von Grundwerten in die Politik
Werte der Politik kristallisierten sich erstmals im ausgehenden 18. Jahrhundert heraus, als französische Revolutionäre sich die Grundwerte liberté, égalité, fraternité gaben. Dieses Gedankengut wurde dann in Deutschland vom politischen Liberalismus aufgenommen und bildete mit Verfassungsstaatlichkeit, Gewerbefreiheit sowie Menschen- und Bürgerrechten einen revolutionären Forderungskatalog.
Einige Jahrzehnte später wurde mit der Allgemeinen Deutschen Arbeitervereinigung (ADAV) der Vorgänger der SPD – der ältesten Partei der Bundesrepublik – gegründet. Es dauerte aber noch fast einhundert Jahre, bis die Grundwerte Eingang in die Programmatik der Partei fanden. Mit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität waren diese eng angelehnt an den Wahlspruch der Französischen Revolution von 1789. Einige Jahre später gab sich die CDU, dem christlichen Sittengesetz folgend, die gleichen Grundwerte. Dabei entsprechen sich die Werte der beiden Parteien natürlich nicht, vielmehr ist die Gewichtung der Werte essentiell. So schließt die Solidarität an das Prinzip der Subsidiarität aus der christlichen Soziallehre an, wohingegen sie bei der SPD aus der Arbeiterbewegung stammt.
Allgemeine Funktion von Werten
Stefan Leisten wies in seiner Wissenschaftlichen Sitzung noch auf einen weiteren Aspekt hin: Oftmals würden Werte erst im Zusammenspiel mit anderen Werten ihre Bedeutung erlangen. Solidarität sei auch „im Bereich von nationalkonservativen Burschenschaften und kriminellen Banden möglich“ wie es in einem Beitrag zum Kongress „Werte und Politik“ 2012 der Friedrich-Ebert-Stiftung heißt. Erst mit den Grundwerten Freiheit und Gerechtigkeit könnten diese Werte ihren Gehalt entfalten.
Nach Krell haben Werte vier Funktionen. So postuliert er, dass politische Grundwerte ein Maßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Wirklichkeit seien, da eine Beurteilung nur mit einem Ist-Soll-Vergleich möglich wäre. Zudem seien sie richtungsweisend für politisches Handeln und würden gleichzeitig deren Legitimität begründen. Schließlich seien Grundwerte ein zentrales Element politischer Kommunikation. Denn diese würden Formulierung, Begründung und Transport politischer Ziele überhaupt erst ermöglichen.
Mit diesen Ausführungen gab uns Bbr. Stefan Leisten eine fundierte Grundlage in der Theorie der Werte und einen Überblick über die Werte und Ideale, die den großen politischen Strömungen Deutschlands zugrunde liegen. Auf hohem Niveau und doch anschaulich vermittelte er den Zuhörern das Spannungsfeld zwischen den erstmal abstrakten Wertvorstellungen der Parteien und dem konkreten politischen Handeln.